Auf der Suche nach der Stille

Hell steht der schlichte Betonbau in der schneebedeckten Hegau-Landschaft. Der gelbe Würfel mit eingezäuntem Vorhof setzt sich in diesen Wintertagen kaum von dem Grau der Umgebung ab. Ein schlichtes Betonkreuz mit fast 13 Metern überragt das kleine Ensemble.

 

Wir sind an der Autobahn A 81. Schon von weitem ist die Emmauskapelle zu erkennen. Gleich nebenan, aber dennoch abgerückt, steht die Tank- und Rastanlage Hegau. Die Autobahnkapelle ist eine von 32 in Deutschland. Vor gut 50 Jahren wurde die erste gebaut. Diese hier ist gerade mal fünf Jahre alt. Die mehr oder weniger kleinen Gotteshäuser sollen der Renner unter den Kirchen sein, hat der Freiburger Soziologieprofessor Michael N. Ebertz vom Zentrum für Kirchliche Sozialforschung an der Katholischen Fachhochschule Freiburg herausgefunden. Die älteste Autobahnkapelle steht in Adelsried. Bis zu 2000 Autofahrer sollen hier täglich persönliche Einkehr suchen. Ruhe und Erholung, geht das überhaupt auf der Durchreise?

Vielleicht ist das gerade die Chance. Ein Ort irgendwo auf der Stecke zwischen Abreise und Ankunft. Ein Ort ohne Bezug außer dem Kreuz. Ein bisschen Nirgendwo. Das ist ein besonderer Zustand. „Fünf bis zehn Minuten“, so haben die Freiburger Forscher Ebertz und Burkhard Werner bei einer Befragung vom Sommer 2007 bis Anfang 2008 herausgefunden, „verbringen die Autofahrer im Durchschnitt für die Andacht in den Kapellen am Wegesrand“. Viele, besonders Berufsfahrer, kommen gezielt und wiederholt. Was sie hier suchen, vermittelt sich zum Teil beim Blick in das Fürbittenbuch. In Engen ist es schon das zwölfte in nur fünf Jahren.

Zwölf dicke Bücher, denen sich Menschen in Freud und Leid anvertraut haben. Menschen, die den Schutz der Anonymität suchen, um ihre Seele zu erleichtern. Vielleicht ist die Emmauskapelle für sie der einzige Ort, an dem sie ihr Herz ausschütten können. Für Pfarrer Gebhart Reichert, den Initiator dieser Kapelle, ist deshalb die Wahrung der Anonymität oberstes Gebot. „Schreiben Sie bitte keine persönlichen Bitten in die Zeitung“, fleht er mich deshalb an. „Das Vertrauen in diesen sicheren Hort der Wünsche könnte verloren gehen, wenn sich jemand wiedererkennt.“ Aber es sind ja nicht nur Nöte, die in dem Fürbittenbuch aufgezeichnet werden. Viele Menschen schreiben einfach nur ihren Dank hinein. „Danke, dass ich so glücklich bin.“ Jemand schreibt, dass er immer wieder gerne in diese Kirche kommt. Andere Besucher danken Gott oder einem Heiligen, dass sie oder ein Familienmitglied eine schwere Krankheit überwunden haben. Sie danken, dass ihr Leben wieder ins Lot gekommen ist. Oder sie bitten um das Wohl ihrer Lieben, eine glückliche Ankunft oder Versöhnung. Es sind die ganz einfachen oder die existenzbedrohenden Dinge im Leben, die den Menschen hier in diesem kleinen Gotteshaus durch den Kopf gehen.

 

Das beginnt schon beim Betreten dieses geweihten Hauses. Ein schmaler Säulengang führt den Besucher an dem kleinen Innenhof mit Wasserbecken vorbei zum Eingang, der zu einem modernen Wohnhaus gehören könnte. Dann liegt der helle Raum mit den breiten Holzbohlen vor ihm. Auf einem Pult liegt eine Bibel. Licht fällt vom Innenhof durch die Glasfassade. Getragen wird diese Wand nur von einem Kreuz, das sich außen vergrößert und auf der gegenüber liegenden Wand als Glaskreuz wiederholt. Im schlichten Raum befinden sich Weidenflechtstühle. Eine Gruppe hat hier zuletzt im Kreis Andacht gehalten. „Seit fünf Jahren, genauer gesagt, seit dem 15. Juli 2005, hat hier bis auf zwei Mal jeden Sonntag ein Wortgottesdienst stattgefunden“, sagt Gebhard Reichert stolz. Zwischen zehn und 90 Menschen versammeln sich dann hier. „Die Frequenz der Engener Kapelle liegt im Mittelfeld „, weiß Professor Ebertz. „Stark vertreten ist das religiös und kirchlich gebundene Bildungsbürgertum. Die meisten Besucher kommen zu Zweit oder in der Gruppe. Solisten sind eher selten.“

Doch jetzt sind wir ja auf der Suche nach der Stille. Die drei Kreuze allein sorgen dafür. Man kann sich der Wirkung nicht entziehen. Trotzdem hat jemand ein Schild aufgestellt mit der Aufschrift: „Bitte Stille“. „In der Stille sind wir alles“ hat jemand in das Fürbittenbuch geschrieben. Stille, schaffen wir das überhaupt? Man muss Stille auch aushalten können. Dafür hat der Trägerverein Texte ausgelegt. – Draußen rollt der Verkehr weiter. Ganz entfernt hört man das stetige Rauschen. Für eine kurze Zeit teilt sich die Welt in draußen und drinnen.

Was ist die Faszination dieser kleinen Kirche, die auf Anraten des Freiburger Weihbischofs Wehrle ökumenisch geprägt ist? Warum erzielen Autobahnkirchen Besucherrekorde, während die Zahl der Kirchenaustritte wieder ansteigt? „Weil die Leute kurz vorbei gehen und für sich sein können“, sagt Gebhard Reichert.

Die brennenden Kerzen zeigen, dass immer wieder Menschen zum Innehalten kommen. Immer wieder ist von der Tankstelle für die Seele die Rede. Die kleine barocke Marienfigur, eine Dauerleihgabe des Erzbistums, und die drei modernen Gemälde von Bernhard Maier über die Begegnung der Emmaus-Jünger mit Jesus versetzen den Besucher in dieser sonst so modernen Architektur in ein besonderes Spannungsfeld. Es lässt die Sorgen, die Hektik für einen Augenblick vergessen. Und das tut der Seele gut. Wer solche Momente erlebt hat, wird sich wieder auf die Suche nach der Stille machen. 19 Prozent aller Besucher von Autobahnkapellen kommen deshalb; 45 Prozent aus religiösen Gründen. „Power-Spirit“, nennt Michael Ebertz diese spirituelle Kraftpause.

Südkurier, 16.01.2010