Auszug aus 
dem Buch:

 

Unter den zahlreichen Architekturströmungen, die das zwanzigste Jahrhundert hervorgebracht hat, nimmt die organische Architektur einen besonderen Platz ein. Im Gegensatz zum Jugendstil, zum Funktionalismus oder zum Dekonstruktivismus ist sie eigentlich nie als eine richtige Strömung erkannt und beschrieben worden. Das ist umso erstaunlicher, als sich nicht zuletzt verschiedene führende Architekten des zwanzigsten Jahrhunderts, wie Frank Lloyd Wright, Hans Scharoun und Alvar Aalto, für eine organische Architektur eingesetzt haben. Obendrein kann eine große Zahl aufsehenerregender Bauwerke, zum Beispiel die Sagrada Familia von Antoni Gaudi. Erich Mendelsohns Einsteinturm, Rudolf Steiners Goetheanum. Le Corbusiers Kapelle in Ronchamp. Eero Saarinens TWA-Flughafenterminal in New York und das Hauptgebäude der ING-Bank von Alberts & Van Huut in Amsterdam, dieser Strömung zugerechnet werden.

In vielen Fällen gehören diese Bauwerke auch noch zu den beliebtesten und von einer breiten Öffentlichkeit geschätzten Gebäuden. Aus einer kürzlich veröffentlichten Umfrage geht zum Beispiel hervor, dass die von Alberts & Van Huut entworfene zentrale der ING-Bank das meistgeschätzte moderne Gebäude der Niederlande ist. Solche Fakten machen deutlich, dass ein breites Interesse an einer Architektur besteht, die nicht nur funktional ist, sondern auch das Gefühl anspricht und an die Kreativität appelliert.

Dass die organische Architektur noch kaum als ein zusammenhängender Stil oder eine eigenständige Strömung beschrieben wurde, liegt wahrscheinlich in dem heterogenen Charakter ihrer Vertreter begründet. Sowohl in der Formgebung als auch im Verständnis des Begriffs "organisch" zeigen sich zwischen ihnen große Unterschiede. Wer Rudolf Steiners Goetheanum in Dornach mit dem Werk Frank Lloyd Wrights vergleicht, kommt wohl schwerlich auf den Gedanken, dass beide zu ein und derselben Strömung gerechnet werden könnten. Dasselbe gilt für die Arbeiten Anton Gaudis oder des finnischen Architekten Alvar Aalto.

Und doch weisen ihre Arbeiten deutliche inhaltliche Übereinstimmungen auf. Für all diese Architekten waren die lebendige Natur und der Mensch als geistiges Wesen ein wichtiger Ausgangspunkt und eine Inspirationsquelle beim Bauen. Für einige hatten Natur und Mensch dabei eine ausgesprochen spirituelle Dimension, die sie zu ganz spezifischen Ansichten führte. Keinem von ihnen ging es dabei um das bloße Nachahmen der Natur, vielmehr ging es allen um die Suche nach Ausgangspunkten für eine Architektur, die mit dem Wesen des Menschen in Einklang steht und mit der natürlichen Umgebung harmoniert.

Was Langlebigkeit und Dauerhaftigkeit angeht, nimmt die organische Architektur gleichfaIls einen besonderen Rang ein. Während fast alle anderen Strömungen, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts entstanden, wie etwa der Jugendstil, schon lange wieder in der Versenkung verschwunden sind, entwickeIt sich die organische Architektur immer noch weiter. Sie ist zwar eine Unterströmung geworden und prägt nicht das Gesicht der Zeit, aber sie bringt noch immer aufsehenerregende Früchte hervor. Hier ist etwa an die Arbeiten von Erik Asmussen in Schweden, Alberts & Van Huut in den Niederlanden und Imre Makovecz in Ungarn zu denken. Auch heute noch sind sich nur wenige Menschen dessen bewusst, dass diese Architekten durch gemeinsame Wurzeln miteinander verbunden sind.

Zum Schluss noch eine Anmerkung zur Bezeichnung "organische Architektur". Genau genommen enthält sie einen Widerspruch in sich. Der Begriff"organisch" bezieht sich schließlich auf die lebendige Natur, auf Pflanzen, Tiere und den Menschen als Lebewesen, wohingegen "Architektur" auf von Menschen geschaffene Bauwerke verweist. Diese Bauwerke sind per Definition leblos. So gesehen mag es merkwürdig oder sogar falsch erscheinen, das menschliche Bauen auf Gesetzmäßigkeiten der Natur zu gründen. Sofern man Architektur als etwas selbstständiges betrachtet, ist dieser Gedankengang völlig richtig.

Aber Architektur ist nicht autonom, sie steht im Dienste des Menschen. Gebäude werden für Menschen geschaffen, damit sie in ihnen leben, und sind Teil eines - jedenfalls ursprünglich - natürlichen Zusammenhangs. Und diese Menschen sind lebendige, natürliche und geistige Wesen, die in natürlichen, sozialen und kulturellen Zusammenhängen leben. Organische Architektur kann als ein Versuch betrachtet werden, diese Aspekte in das Bauen einzubeziehen und in der Formgebung zum Ausdruck zu bringen. So gesehen formuliert der Ausdruck "organische Architektur" eigentlich einen Appell oder ein Zukunftsideal: nämlich in Übereinstimmung mit dem Wesen des Menschen und den natürlichen und geistigen Zusammenhängen, in denen wir leben, zu bauen.


Sagrada Familia, Barcelona
Antoni Gaudi, 1883-1926


Einsteinturm, Potsdam
Erich Mendelsohn, 1920-1924


Rudolf Steiner, 1924

Kapelle Notre-Dame-du-Haut
Le Corbusier, 1955

TWA-Flughafen-Terminal, New York
Eero Saarinen, 1962

Zentrale der ING-Bank, Amsterdam
Alberts & Van Huut, 1987